Neuerscheinung: Objekte als Personen. Von Carlo Severi
10. Juli 2019
Eine Anthropologie des Zusammenspiels von Sehen und Glauben
Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
Konstanz: Konstanz University Press 2019
(ethno|graphien, 5)
Zitation
Wir alle verkehren unwillkürlich mit leblosen Objekten, als wären sie menschliche Akteure. Für einen flüchtigen Moment kommt es uns so vor, als ob unsere Autos und Computer uns hören könnten. Aber unter welchen Bedingungen denken, sprechen, agieren oder reagieren unbelebte Objekte? Wann werden die Dinge um uns herum lebendig?
Carlo Severi entwirft in seinem neuen Buch nichts Geringeres als eine Anthropologie des Denkens und der Wahrnehmung. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen Formen kollektiver Imagination, die unbelebten Artefakten - Spielzeugen, Ritualstatuetten, Grabdenkmälern oder Kunstwerken - Handlungsmacht zuweisen. Dinge werden zu lebendigen Wesen, die auf den Menschen wirken und sein Handeln bestimmen.
Die Moderne hat bekanntlich mit dem Primitivismus eine Ästhetik etabliert, die solche Objekte als Kunst betrachtet. Severi kehrt diese Blickrichtung um. Indem er jegliche Produktion von Bildern als soziale Tatsache betrachtet, die untrennbar mit der Ausübung des Denkens verbunden und damit universell ist, stellt er die etablierten Grenzen zwischen künstlerischem Diskurs und alltäglicher Praxis in Frage. Er entwickelt eine neue Theorie des Bilddenkens, die mit dem kulturellen Gedächtnis und dessen Wirklichkeitsmodellierung verbunden ist. Severis Grundannahme ist dabei so einleuchtend wie folgenreich: Das Zentrum einer Kultur bilden Strukturen der Wirklichkeitsdeutung, die an das Denken in Bildern geknüpft sind. Sie fundieren den Zusammenhang von Sehen und Glauben. Dieser Befund gilt auch für Gesellschaften, die sich als säkular begreifen. Die Anthropologie des Gedächtnisses, die Carlo Severi in seiner bahnbrechenden Studie Das Prinzip der Chimäre vorgelegt hat, wird mit diesem Buch zu einer allgemeinen Anthropologie des Denkens erweitert. (Verlag)
Prof. Carlo Severi ist Inhaber des Lehrstuhls für die Anthropologie des Gedächtnisses an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris und Forschungsleiter am Centre national de la recherche scientifique (CNRS). Bei Konstanz University Press erschien zuletzt "Das Prinzip der Chimäre".
Der Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ hat das Erscheinen dieses Buches gefördert.
Über die Reihe
Die Reihe „Ethnographien“ wird herausgegeben von Thomas G. Kirsch, Michael Neumann, Dorothea E. Schulz und Marcus Twellmann.
Die „Ethnographien“ verstehen sich als Forum einer philosophy out of doors (Tim Ingold), die dort, wo sie gelingt, Wahrnehmung und Erfahrung von Wirklichkeit mit ergebnisoffener Begriffsarbeit verbindet. Angesichts einer Gegenwart, die sich den hergebrachten Theorien und Methoden kaum mehr erschließt, ist diese Form der Erkundung und Darstellung an der Tagesordnung. Die Reihe versammelt vor allem international renommierte Ethnographien in deutscher Erstübersetzung.
„In der Beschäftigung mit ethnographischen Darstellungen sind neuartige, vielfach überraschende Einsichten in Prozesse der Formierung von Sozialität und in unterschiedliche Erscheinungsformen kultureller Alterität zu gewinnen; diesem Ziel verschreibt sich die Reihe.
Die Reihe „Ethnographien“ soll ein Ort sein, an dem sich anschauliche ethnographische Narration und avancierte Theorie verbinden. Sie soll ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die erzählerische Sichtbarmachung sozialer Ordnungen und kultureller Zusammenhänge unabdingbar für unser Verständnis einer Welt weitreichender Verflechtungen ist.“ (die Herausgeber/innen)